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  • indem die Tage rollen
    Haas, Claude

    Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 06/2020, Letnik: 94, Številka: 2
    Journal Article

    Zusammenfassung Der Beitrag geht von der These aus, dass Goethes Arbeit an der ›klassischen‹ Dramenform sich einer tieferen Einsicht in die zeitliche wie rechtliche Problematik der ›tragédie classique‹ verdankt als allgemein angenommen. Dabei dürfte es maßgeblich die Französische Revolution gewesen sein, die eine neue Attraktivität der ›alten‹ Form bewirkte. Das zeigt sich vor allem an Die Natürliche Tochter , einem Stück, in dessen Entstehungszeit nicht zufällig Goethes Übersetzungen zweier Dramen Voltaires fallen. Figurationen politischer Gründung und Legitimation bildeten das Zentrum des ›klassischen‹ Dramas bereits bei Corneille und stellten es zuverlässig auf eine um 1800 für konservative Autoren aktuelle Zerreißprobe. Die forciert gelassene Präsentation legitimer Herrschaft unter der Berufung auf Zeitkontinuität und lang währende ›Gewohnheiten‹ stand in der ›tragédie classique‹ nämlich in massiver Spannung zur normativen Forderung der ›Einheit‹ der Zeit, die das Drama auf eine disziplinierte Zeitökonomie und idealerweise sogar auf die Synchronisierung von dargestellter Zeit und Zeit der Darstellung verpflichtete. Dort, wo Corneille solche Spannungen entweder zu kaschieren oder politisch zu nutzen versuchte, reißt Goethe in Die Natürliche Tochter zwischen Figurenrede und Dramaturgie eine unüberwindbare Kluft und lässt ursprüngliche Funktionen der ›klassischen‹ Zeitökonomie konsequent leerlaufen. Sein Drama betreibt demnach keine restaurative Formpolitik, sondern führt die historische Uneinholbarkeit der ›klassischen‹ Form angesichts zeitgenössischer politischer Entwicklungen vor.