Dieser im Open Access erscheinende Band nimmt eine bislang kaum beachtete Tendenz der Nachkriegsepik in den Blick:„Ich bin nicht Stiller!“ heißt es in Max Frischs Roman gleich zu Beginn des ersten ...Teils, der den Titel „Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis“ trägt. Der das sagt, nennt sich White, wird aber von seiner Umgebung für Stiller gehalten. Stiller ist mit seinem provokanten Beginn vielleicht der markanteste unter den unzuverlässig erzählten Romanen der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, von denen im Band einige zwischen 1945 und den 1970er Jahren veröffentlichte vorgestellt und analysiert werden, darunter Texte von Friedrich Dürrenmatt, Hugo Loetscher, Peter Weiss, Alfred Andersch, Arno Schmidt, Uwe Johnson, Günter de Bruyn und Fred Wander; aber auch von älteren Autoren, die noch nach dem Krieg publiziert haben, wie Leo Perutz und Thomas Mann. Ein Schwerpunkt der Auswahl liegt darin, die Variabilität des Verfahrens zu zeigen und den theoretischen Randbereich des Begriffs ‚narrative Unzuverlässigkeit‘ auszuleuchten. Er erweist sich als heuristisch fruchtbares Analysetool, mit dem auch Texte gewinnbringend untersucht werden können, die nicht im strengen Sinne unzuverlässig erzählt sind.
Der Beitrag untersucht die literarische Figur des jungen Mädchens in Slawonien. An drei Beispielen (Victor von Reisners Das angenehme Erbe, Roda Rodas Die Streiche des Junkers Marius und Wilmea ...Vukelichs Spuren der Vergangenheit) werden die literarischen Eigenschaften von Mädchen gezeigt, um sie mit der Tradition der sogenannten Mädchenbücher auf dem deutschsprachigen Gebiet vergleichen zu können. Die Figurenanalyse stützt sich auf die von Christa Stocker vorgeschlagenen Elemente: explizite und implizite Beschreibung von Bewegung, Natürlichkeit, Auffälligkeit, mentalitätsgeschichtliche Implikationen und Personenbezeichnungen. Die vergleichende Analyse zeigt, dass sich nur Victor von Reisner in seiner Rollengestaltung innerhalb des Rahmens der von Mädchenbüchern vorgeschriebenen Normen bewegt. Roda Roda und Wilma von Vukelich verleihen ihren Mädchenfiguren ungewöhnliche Eigenschaften, die sich nicht in die Einteilung zwischen wohl erzogenem und unerzogenem Mädchen einfügen lassen. Obwohl sie Eigenschaften von wilden Mädchen, d. h. Mädchen, die sich untypisch benehmen, zeigen, werden sie in den analysierten Texten nicht als unerzogen eingeschätzt oder sanktioniert. Ganz im Gegenteil: Ihre Eigenschaften, die sie als wild erscheinen lassen, geben ihnen eine Besonderheit und Charaktertiefe, die sie als erwachsene Frauen beibehalten. In allen drei Texten prägen die Eigenschaften der Region den Charakter der literarischen Mädchenfigur.
Der Beitrag beschäftigt sich mit den Entwürfen von Krankheitsbildern in den Prosawerken Schornstein (2006) von Jan Faktor und Terminifera (2007) von Michael Stavarič und befragt die Texte im Hinblick ...auf die Exklusionsmechanismen, die sich an der Marginalisierung und zunehmenden ‚Pathologisierung‘ beider Hauptfiguren beteiligen. Im Vordergrund steht dabei die Frage, wie sich die Wahrnehmung der Hauptfiguren durch die Außenwelt auf deren Selbstwahrnehmung und Handeln auswirkt. Nicht zuletzt wird überlegt, inwiefern die hier entworfenen Krankheitsbilder als eine Parabel bzw. ein Abbild der ‚Krankheiten‘ unserer heutigen Welt gelesen werden können.
Odalisken und Liebessklavinnen Tafazoli, Hamid
Orbis litterarum,
October 2014, 20141001, Volume:
69, Issue:
5
Journal Article
Peer reviewed
Die literarische Analyse textueller Vermittlung des Blickes auf Frauen im Kontext von kultureller Aterität, Orientalism und Gender Studies ist keine Seltenheit. Innovativ ist im vorliegenden Beitrag ...die Erschließung von Repräsentationen persischer Frauen im Kontext der Alteritätsforschung im doppelten Sinne: Zum einen soll die Perspektive auf den Umgang mit kultureller Andersartigkeit und deren Reflexionen in einem persisch‐deutschen Kontext und zum anderen auf die geschlechtsspezifische Alterität aus der Perspektive der Gender Studies erweitert werden. Der Beitrag setzt in der frühen Phase kultureller Fremdkonstruktion und im Aufkommen einer Reisebeschreibungskultur an, blickt in die zweite Phase des Wissenserwerbs über fremde Kulturen und möchte die Annahme begründen, dass das Bild persischer Frauen zum einen im Kontext einer dem Beobachter als fremd geltenden Kultur und zum anderen im Kontext eines geschlechtsspezifisch Anderen, d.h. männlichen Blickes entsteht und so einer zweifachen Fremdheit ausgesetzt ist: der gesellschaftlich‐kulturellen und der geschlechtsspezifischen.
Hans Sachs gilt als der produktivste deutschsprachige Dichter des 16. Jahrhunderts. In seinen 85 Fastnachtspielen integriert er das Selbstgespräch einer Bühnenfigur, den Theatermonolog, ca. 350 Mal. ...Diese literarische Technik fehlt im älteren Bestand der Nürnberger Fastnachtspielüberlieferung indes gänzlich. Der Band geht der Frage nach den literarhistorischen Voraussetzungen und der kulturhistorischen Bedeutung des Theatermonologs nach. Die Analyse ausgewählter Fastnachtspiele wird u.a. von Untersuchungen der Aufführungsbedingungen in Nürnberg und des Autorschaftskonzepts von Hans Sachs umrahmt.
Diese historisch-kritische Ausgabe der Werke Jean Pauls präsentiert den Kernbereich seines Schaffens erstmals unter Beachtung des Schreibprozesses: Nicht nur die Texte in der vom Autor letztgültig ...verfügten Form, sondern auch nie edierte Werkfassungen und unbekannte handschriftliche Vorarbeiten werden erschlossen. Der Kommentar schlüsselt Jean Pauls Metaphernvielfalt auf der Grundlage bisher nicht zugänglicher Sammlungen aus seinem Nachlass auf.
Justinus Kerner's Reflections on Science. Justinus Kerner (1786–1862) was a physician as well as a poet. In his research, as well as his profession, he tried to reconcile empirical observation with ...dreams, mesmerism, and the unconscious. Like the romantic naturalists of his time, Kerner rejected the exclusive preoccupation with rational science as a restriction to epistemology, which he wanted to complement by considering the “nocturnal sides of nature” (“Nachtseiten der Natur”) as well. This article wants to show how Kerner reflected on science, medicine, and nature, and how it became possible for a physician who became famous for the discovery of food poisoning by botulism to be ridiculed at the same time, or at least to be frowned upon, for writing about seeing ghosts and having visions. How could he combine empiric case studies and exact, detailed observation with his belief in the supernatural? And how could he, not only harmonize these apparently contradictory concepts in his writings, but also turn them into paradigms that are based on one another? To answer these questions, this article will refer to Kerner's works on “sausage poisonings” (1817–1842) in the early nineteenth century, as well as his case study of The Seeress of Prevorst (Die Seherin von Prevorst, 1829), in which he described the case of a female patient who was supposed to be a clairvoyant, and finally his literary writings, like The Homeless (“Die Heimatlosen”, 1816) and his autobiographic work Sketches from My Boyhood (Das Bilderbuch aus meiner Knabenzeit, 1849). His personal observations and experiences were the reason that Kerner did not simply deny positivist medicine, but expanded his concept of healing by adding dreams, mesmerism, and visions. For, in the end, the unconscious, as well as the “sausage poison”, evades determination by scientific empiricism alone.